Sonntag, 12. Januar 2014

Vom Leben mit einem Omnivoren Karnisten*

"Ich will deinen Geist befreien, Neo, aber ich kann dir nur die Tür zeigen. Durchgehen musst du ganz allein."
- Morpheus 

Heute kam mir der Gedanke, dass ich schon oft von M. geschrieben habe, ebenso wie vom Leben als Vegetarierin und Veganerin, aber noch nie vom Zusammenleben mit ihm. Davon, wie es ist, mit einem "Fleischesser" zu leben, ihn zu lieben und seine Entscheidung zu akzeptieren.

Als ich M. kennen lernte, war ich bereits auf dem Weg in Richtung eines veganen Lebens. Ich verzichtete mehr und mehr auf Milch, Joghurt, Sahne und Quark, aber nicht auf Eier. Fleisch aß ich sowieso seit fast zwei Jahren nicht mehr, Fisch seit ein paar Monaten. M. schloss von meinen Facebook-Posts darauf, dass ich Vegetarierin bin und ich bejahte seine Frage danach. Nicht mehr, Details sparte ich aus, und er fragte selbst nach: Wieso? Seit wann? Ich fand sein Interesse spannend und fand heraus, dass ich es zwar mit einem leidenschaftlichen Fleischesser zu tun hatte, dieser aber durchaus vernünftig war und die allgemeine hemmungslose Gier nach möglichst billigem Fleisch nicht teilte. Für ihn war es eine regelrechte Herausforderung, mich zu bekochen und er war froh, dass ich keine Vegetarierin bin/war, die ihm sein Schnitzel madig macht, indem sie ihm stundenlang von den armen Schweinen und ihrem Leid erzählt.
Als wir zusammen zogen, musste er selbst für sein Fleisch sorgen, ansonsten gab es vegetarisch - was sowohl für ihn als auch für mich kein Problem darstellte. Ich wurde wieder etwas toleranter, konsumierte wieder deutlich mehr tierische Produkte und es machte mir weniger aus, wenn M. neben mir saß und Fleisch aß. Bis ich im Spätsommer letzten Jahres wieder damit begann, mich zu informieren. Ich spürte, dass in mir drin etwas unruhig war, dass ich "meinen Weg" verlassen hatte. Ab und an kaufte ich sogar Fleisch für M. - etwas, das ich nie wieder hatte tun wollen, das hatte ich mir geschworen. Und nun kam ich mir vor, als wenn ich Verrat an mir selbst und meinen Idealen begangen hätte. Es nagte an mir, ließ mich unruhiger schlafen, ganz besonders, als ich wieder mehr zu dem Thema las und mir eines klar wurde: Vegetarisch ist nicht die Lösung, nicht für mich, nicht auf Dauer. Ich fühlte mich getrieben  und ging schwanger mit Gedanken an ein Leben als Veganerin - aber ich zögerte. Konnte ich das M. "antun"? Immerhin kochen wir viel und essen gerne zusammen und wir würden einiges anders machen müssen. Nie mehr vegetarische Spaghetti Carbonara à la M., würde er mir das übel nehmen? Schließlich ist er so stolz auf das Rezept und ich liebe es, wenn er mich damit bekocht.
Glücklicherweise ist M. schon ein bisschen was von mir gewöhnt und weil er sehr verständnisvoll ist, hörte er mir zu. So lange ich Prinzipien habe, die wirklich durchdacht sind, nimmt er mich ernst. Deswegen hat ihn mein Vegetarischsein auch nicht abgeschreckt, weil er merkte, dass das Ganze bei mir Substanz hat und ich meine Ansichten vertrete. Menschen mit Prinzipien sind ihm wesentlich lieber als welche, die einem Trend hinterher rennen ...

Natürlich habe ich auch mal Momente, in denen ich M. gerne packen und schütteln würde. Aber nicht, weil er Fleisch isst, sondern weil ich weiß, dass er es eigentlich besser weiß. Weil er sich in der gleichen Situation befindet wie ich vor drei Jahren, nachdem ich "Tiere essen" gelesen und vor dem endgültigen Schritt gezögert hatte - aus Angst, "anders" zu sein und auf das Unverständnis anderer zu treffen. Als ich das Buch von Melanie Joy las, war ich sogar einmal regelrecht wütend auf ihn. Über all das spreche ich aber mit ihm statt meine Gefühle zu verschweigen, und er findet es "okay", dass ich auch mal wütend deswegen auf ihn bin.
Ob ich mir wünsche, dass er Vegetarier wird? Wenn ich das leugnen würde, müsste ich lügen, aber gleichzeitig fände ich es genauso okay, wenn er Fleischesser bliebe. Wie Morpheus Neo die Tür nur gezeigt hat, habe ich ihm auch nur die Tür zeigen können - ob er hindurchgeht, bleibt seine eigene Entscheidung und die werde ich akzeptieren. Ich habe ihm schon gesagt, dass ich mir lediglich wirklich sehr wünschen würde, wenn er das billige Fleisch nicht mehr essen würde, also keine Bratwurst auf dem Weihnachtsmarkt oder keinen Döner mehr, und stattdessen zuhause Biofleisch isst - was er selbst gut findet, denn er isst inzwischen keine Wurst mehr und Fleisch isst er nur noch zwei-, dreimal die Woche, wenn überhaupt so oft. Ein- oder zweimal war ich etwas zu forsch, was er mir dann aber auch sagte; das waren die Male, in denen ich zu wenig Geduld mit ihm aufbrachte. Inzwischen sehe ich ihn als das, was er meiner Meinung nach auch wirklich ist: Ein Vegetarier im Herzen. Einer von denen, die nicht wollen, dass Tiere für sie leiden müssen, obwohl er sie noch isst. Einer von denen, die es schöner und besser finden, wenn das Schwein glücklich über die Wiese gelaufen ist und sich im Schlamm gesuhlt hat und die dafür auch gerne das doppelte oder dreifache bezahlen. Einer wie Jamie Oliver, Tim Mälzer oder Sarah Wiener, die zwar alle noch Fleisch essen, die sich aber auch dafür einsetzen, dass mit den Tieren gut umgegangen wird. Einer von denen, die nicht verleugnen, was da auf ihrem Teller liegt: Ein Tier, das einmal gelebt, gefühlt und geatmet hat.



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*Karnismus, ein Begriff, den Melanie Joy mit ihrem Buch "Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen" prägte. Er bezeichnet das System, in dem wir leben, und das es uns möglich macht, bestimmte Tiere zu essen, während wir andere z.B. als Haustiere halten. Das Essen von Tieren wird als normal, natürlich und notwendig angesehen, was es den Menschen ermöglicht, sich von dem Fleisch, das sie essen, zu distanzieren und kein Mitgefühl für das Tier, das für sie gestorben ist, zu empfinden.
Ich sehe M. zwar nicht mehr als Karnisten an, weil er sich durch seine Recherche und mich schon außerhalb dieses Systems befindet (zumindest mehr als die meisten anderen), aber er selbst bezeichnet sich so - lieber denn als Omnivoren - weil er noch nicht vollständig aus dem System ausgebrochen ist.

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