Als wir an meinem Geburtstag essen
waren, kam M.s Mutter auf ein schönes Thema und einen knackigen
Begriff für so vieles, das mich auch immer wieder beschäftigt: Die
Sockenentscheidung. Vereinfacht gesagt: Man muss sich fragen, ob man
zwei zueinander passende Socken trägt, weil „man das so macht“
oder weil man selbst es so will. Natürlich ist diese Frage auf ein
Kleinstdetail bezogen, aber dennoch veranschaulicht es sehr gut das,
was ich selbst oft in Frage stelle: Tut man etwas aus freiem Willen
heraus oder durch Beeinflussung Anderer? Und in meinem Leben wird
diese Frage immer zentraler. Vielleicht ist dies heute meine Art zu
rebellieren, nachdem ich in meiner Teeniezeit ein doch relativ braves
Kind war, das es wegen sehr liberalen Eltern und der langen Leine,
die sie mir ließen, nie nötig hatte, sich aufzulehnen. Aber bereits
als Neunjährige weigerte ich mich bei meiner Kommunion, ein weißes
brautkleidartiges Taftkleid mit Reifrock anzuziehen, nur weil man so
etwas üblicherweise bei der „Heiligen Kommunion“ als Mädchen
trägt. Ich trug an diesem Tag dann einen beigefarbenen Hosenanzug
und fühlte mich sehr wohl darin.
Damit will ich nicht sagen, dass man
grundsätzlich rebellieren und alles anders machen soll als andere,
bei der Sockenentscheidung geht es einfach nur um eine bewusste
Entscheidung. Wenn man sich dann dazu entschließt, etwas so zu
machen, weil alle anderen es auch so machen oder weil schon Uroma
Berta es so gemacht hat, ist das vollkommen in Ordnung – insofern
man es selbst so will. Aber etwas nur zu tun, weil es eben schon
immer so war und weil man nicht aus der Reihe tanzen will oder weil
man sich nicht traut, seine eigenen Ansichten zu vertreten, ist, es
tut mir leid, wenn ich es jetzt so offen schreibe: feige. Jeder von
uns hat natürlich schon so gehandelt, mich selbst nehme ich da nicht
heraus, aber mein Ziel ist immer, Dinge zu hinterfragen. Ich habe zum
Beispiel nichts gegen Traditionen per se, aber in den meisten Fällen
ist es für mich ein kopfloses Nachkauen, ohne selbst wirklich diese
Position zu vertreten.
Ein schönes Beispiel kam in den
letzten Tagen auf. Da eine liebe Freundin von mir im Juni ihre
kirchliche Hochzeit feiern wird, sprechen auch M. und ich öfters
über dieses Thema. Heiraten war und ist für mich fast ein rotes
Tuch, zwar sehe ich ein, dass eine Hochzeit ein schöner und
besonderer Tag im Leben des Brautpaares ist, aber der Aufstand, der
darum betrieben wird, ist mir unverständlich. Inzwischen kann ich
mir zwar vorstellen zu heiraten, aber doch bitte in einem gemäßigten
Rahmen und genau so wie ich das haben möchte und nicht wie
irgendwelche Tanten, Traditionen oder allgemeine Vorstellungen. Es
fängt schon beim Kleid an: Ich käme mir in einem klassischen weißen
Brautkleid affig und nicht wie ich selbst vor. Ich würde lieber in
einem dunklen Kleid heiraten (Zumal das Weiß für Jungfräulichkeit
steht … Bitte …). Aber nein! Das tut man doch nicht! Wie kann ich
nur? „Man“ zieht doch nun mal ein weißes oder ein helles Kleid
an. Aber die Gegenfrage: Wieso zur Hölle soll ich in einem weißen
Kleid heiraten, nur weil „man“ das so macht? Vielleicht werde ich
auch ein weißes Kleid tragen, das weiß ich jetzt noch nicht. Aber
das werde ich tun, weil ich es so will und nicht weil irgendwelche
Üblichkeiten oder Brautmoden-Zeitschriften es mir so vorschreiben.
Und wer ist eigentlich dieser ominöse „man“, der uns
vorschreibt, was wir zu tun und zu lassen haben? Beim Thema Hochzeit
geht das so weiter: Wieso soll ich eine Hochzeitstorte haben? Wieso
einen Brautstrauß? Wieso soll ich auch nur irgendetwas so machen wie
ich es eigentlich nicht will? Wieso sollen wir das tun?
Die Sockenentscheidung kann man auf
alle Bereiche des Lebens übertragen: Wieso soll ich weiter Fleisch
essen, nur weil in meiner Familie immer schon Fleisch gegessen wurde?
Wieso soll ich Kinder in die Welt setzen, sobald ich verheiratet bin?
Wieso soll die Frau in Erziehungsurlaub gehen? Wieso soll der Mann
Hauptverdiener sein? Wieso muss man heiraten, wenn man als Paar
länger als zehn Jahre zusammen lebt? Wieso soll ich keine Chucks auf
einen Rock anziehen? Wieso soll ich noch nicht mit meinem Freund
zusammenziehen, nur weil wir erst zwei Monate zusammen sind? Wieso
soll ein Mädchen mit Puppen spielen und ein Junge mit Autos? Wieso
soll ich das Dessert nicht schon vor dem Hauptgang essen? Wenn ihr
euch auf diese Fragen selbst mit „Weil man das eben so macht“
oder „Weil man das eben nicht so macht“ oder etwas in der Art
antwortet, solltet ihr euch fragen, ob ihr damit glücklich seid oder
nicht. Es mag Menschen geben, die glücklicher sind, wenn sie so
„fremdbestimmt“ leben, aber ich wage zu behaupten, dass dies wohl
die Minderheit ist.
Unser Leben ist zu kurz, um
insgeheim das Leben anderer zu leben. Wir sollten das tun, was wir
selbst wirklich wollen und versuchen, so wenig Kompromisse einzugehen
wie möglich. Dazu gehört vor allem Mut und Rückgrat. Man muss
etwas wagen, um seinen eigenen Weg gehen zu können. Dieser Weg kann
dann erst einmal etwas holprig sein, aber wenn wir keine neuen Wege
einschlagen, kann sich nichts Neues entwickeln, dann werden wir keine
eigenen Traditionen begründen und immer nur das fortführen, was
schon immer da war. Diese Fragerei ist unbequem und kann auch
anstrengend sein, aber letzten Endes macht dieses Hinterfragen der
eigenen Entscheidungen glücklicher als das Nachkauen. Und wie
gesagt: Es geht nicht darum, immer und prinzipiell einen eigenen Weg
einzuschlagen, es geht um das Bewusstmachen all dessen, was unser
Leben zu dem macht, was es ist. Es geht darum zu fragen: WILL ich
meine Socken farblich passend anziehen oder nicht?
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